Tai Chi

Ursprünglich ist Taijiquan eine sogenannte innere Kampfkunst für den bewaffneten oder unbewaffneten Nahkampf. Vor allem in jüngerer Zeit wird es häufig als System der Bewegungslehre oder der Gymnastik betrachtet, das der Gesundheit, der Persönlichkeitsentwicklung und der Meditation dienen kann. Der eigentliche Kampfkunstaspekt tritt vor diesem Hintergrund immer häufiger zurück und verschwindet bisweilen ganz.

Diese Beschreibung aus der Wikipedia Enzyklopädie ist recht zutreffend, allerdings ist das Verschwinden des Kampfkunstaspektes bedauerlich, da Tai Chi nach wie vor eine Kampfkunst ist und in ihren äußeren Abläufen auch eindeutig Kampfkunsttechniken darstellt. Diese können schon in der heutigen Zeit in den Hintergrund treten, sollten aber keineswegs unbeachtet bleiben. Auch wenn Tai Chi zu den inneren, weichen Kampfkünsten zählt, so wirkt es doch im Außen. Natürlich nicht so offensichtlich, wie bei einer äußeren, harten Kampfkunst, die durch Zweikampf und Körperkontakt geprägt ist. Aber es sind nun einmal Bewegungsabläufe eines Kampfes, die dargestellt werden. Und an die erinnern sich Körper, Geist und Seele.

Meine Meisterin ist immer sehr darauf bedacht, wo sie beim Unterrichten aufhört. Vorzugsweise nämlich an einer Position, in der das Schwert nach unten gerichtet ist oder zumindest nicht auf den imaginären Gegner zeigt. Was passierte anderenfalls? Einige Teilnehmer berichteten ihr, dass sie am Abend nach dem Üben Streit mit ihren Partnern hatten, obwohl sie das Seminar als sehr schön und entspannend empfanden. Wie kam das? Die Form ist eine rhythmische Abfolge von sich ausbreitenden und sich dann wieder sammelnden Techniken. Man kann es auch als ein Ausbreiten in das Außen, gefolgt von einem Sammeln im Inneren bezeichnen. Oder im Kampfkunstbereich als Angriff und Rückzug. Um die Form besser kennen zu lernen, wird sie zunächst in ihre einzelnen Techniken zerlegt. Übe ich eine Technik, die ins Innere geht, so erhalte ich mehr oder minder auch einen Einblick in mein Inneres. Übe ich dann eine Technik, die ins Außen geht, so gehen auch meine Energien mehr oder minder dorthin und transferieren so vielleicht unbedacht einen Konflikt aus meinem bislang verborgenen Inneren heraus in das nun für alle sichtbare Äußere. Und dies geschieht häufig auf der Schwelle vom Unterbewusstsein zum Bewusstsein. Sind diese „Nebenwirkungen“ bekannt, können Missverständnisse natürlich vermieden werden. Aber sie sind auch wichtig für den Entwicklungsprozess an sich und für das Verständnis des Ganzen. Denn der immer währende Übungsprozess innerhalb dieser beiden Gegensätze (Außen und Innen) erzeugt die Einheit, das Eins-Sein mit sich selbst, das Heil-Sein. Das ist das Ziel bzw. der Lohn, der zugegebenermaßen erst nach einer gewissen Zeit des Übens und des – An sich Arbeitens – auf uns wartet.

Tai Chi nur in den Wellness- oder Fitnessbereich zu stopfen, würde dieser edlen Kampfkunst nicht gerecht werden. Es wäre so, als ob wir bei einem Kochbuch mit 1000 Seiten nur die ersten drei Rezepte zum Kochen nehmen würden, weil wir meinen, diese seien ausreichend.